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Biotope

Flechten sind Extremisten - unauffällige Pflänzchen ohne Wurzeln, aber fast überall anzutreffen. Sie können Lebensräume besiedeln, die für höhere Pflanzen nicht geeignet sind. Sie finden sich an Küstendeckwerken unterhalb der Mitteltidehochwasserlinie genauso wie auf trockenen Sandböden. Sie kommen in naturnahen Wäldern, Siedlungsgebieten, auf Mauern, Dachpfannen und Wegen sowie auf technischen Einrichtungen vor. Hier eine kleine Auswahl regional bedeutsamer Lebensräume.

Küstendünen

Dünenvegetation auf der Insel Borkum

Dünenvegetation auf der Insel Borkum

Die Grau- und Braundünen den Ostfriesischen Inseln bilden die einzigen großflächigen Lebensräume von Bodenflechten im Nordwesten. Der weitgehende Schutz durch den Nationalpark Niedersächsisches Wattenmeer bildet jedoch keine Garantie für ihren langfristigen Bestand. Ohne ein gewisses Maß an Dynamik und Veränderung der Dünen sind die meisten Arten von der fortschreitenden Sukzession bedroht.

Binnendünen

Naturschutzgebiet Hollesand Landkreis Leer

Naturschutzgebiet Hollesand (Landkreis Leer)

Der Hollesand hat nicht das Schicksal vieler anderer Binnendünengebiete geteilt. Während die meisten ehemals flechtenreichen Sandgebiete heute intensiv landwirtschaftlich und forstlich genutzt werden, erscheinen im NSG Hollesand noch ungenutzte Dünen. Aber auch hier sind die ursprünglich artenreichen Bestände von Bodenflechten durch Aufforstung verschwunden. Großflächige Kalkung der Forstflächen mag ebenfalls zu dem starken Rückgang beigetragen haben. Heute sind Cladonia-Arten in dem Gebiet kaum noch zu finden. Für Renaturierungsmaßnahmen wäre es jedoch noch nicht zu spät, wenn auch deren Erfolg angesichts von Nährstoffeinträgen ungewiss wäre.

Naturnahe und historisch alte Wälder der Geest

Feuchter Laubwald im Ammerland Heller Büsche

Feuchter Laubwald im Ammerland (Heller Büsche)

Alte Laubwälder der oldenburgisch-ostfriesischen Geest bilden Verlierersräume für zahlreiche Arten, die in der freien Landschaft aufgrund ihrer Ansprüche an ein feuchtes Bestandsklima und geringe Nährstoffeinträge kaum noch existieren können. Diese Wälder bilden deshalb wahre Schatzkammern der Artenvielfalt.

Weidengebüsche und Sukzessionsgehölze

Weidenbestand im Südstrandpolder auf Norderney

Weidenbestand im Südstrandpolder auf Norderney

Vielerorts haben sich auf ungenutzten Parzellen oft nur kleinflächige Gebüsche gebildet, die über Jahrzehnte ungestört wachsen konnten. Da sie nur mäßigen direkten Stoffeinträgen unterliegen und meist über ein feuchtes Mikroklima verfügen, bieten sie entsprechend spezialisierten Arten Raum. Die Artenvielfalt dieser unscheinbaren Lebensräume kann erstaunlich hoch sein. Bei zunehmend höheren Durchschnittstemperaturen bilden diese feuchten Bestände für viele neu eingewanderte Arten Rückzugsräume.

Wallhecken

Wallhecke am Rand des Landschaftsschutzgebiets Stiekelkamp Landkreis Leer

Wallhecke am Rand des Landschaftsschutzgebiets Stiekelkamp (Landkreis Leer)

Die oldenburgisch-ostfriesische Geest verfügt immer noch über ein langes Netz von Wallhecken mit einem besonderen Strukturreichtum alter Gehölze, die als Substrat für Flechten eine hohe Bedeutung haben können. Günstige Wuchsbedingungen für Flechten herrschen dort, wo die Wälle am Rand von extensiv genutzten Grünlandflächen verlaufen oder im Einflussbereich von Waldgebieten und Niederungen liegen.

Siedlungsgehölze und Straßenbäume

Linden an der Wohnstraße "Auf der Lübsche" in Leer

Linden an der Wohnstraße "Auf der Lübsche" in Leer

Mit dem Rückgang der Luftbelastung durch Hausbrand und überregionale saure Niederschläge in den vergangenen Jahrzehnten sind viele Flechtenarten in die Städte „zurückgekehrt“. Bäume, an denen noch in den 1980er Jahren nur die säureliebende Krustenflechte Lecanora conizaeoides vorkam, werden heute von einer Vielzahl - meist nährstofftoleranter - Flechtenarten besiedelt. Oft ist die Artenzahl von Straßenbäumen in der Stadt höher als an Landstraßen, da sich dort landwirtschaftliche Immissionen bemerkbar machen, die die Vitalität empfindlicher Arten beeinträchtigen.

Straßenbegleitgrün

Junges Straßenbegleitgrün an einer Straßenböschung

Junges Straßenbegleitgrün an einer Straßenböschung (B 436, Leda-Brücke)

Vielfach unbemerkt bleiben die vielen oft gar nicht so kleinen Gehölze, die entlang vieler Straßen mehr oder minder breit angelegt worden oder spontan entstanden sind. Mit dem Auto ist man in wenigen Sekunden daran vorbeigefahren ohne zu ahnen, welche Fülle an Flechtenarten in diesen unscheinbaren Beständen vorkommen kann. Neben oftmals beachtlichen Müllmengen, die sich hier ansammeln, zeichnen sich diese teilweise urwüchsigen und ungestörten Gehölze durch eine hohe Vielfalt unterschiedlicher Baumarten und ein feuchtes Mikroklima aus - hervorragende Bedingungen für eine artenreiche Flechtenflora.

Parks und Gärten

Park am Sielshof in Neuharlingersiel

Park am Sielshof in Neuharlingersiel (Landkreis Wittmund)

Der Nordwesten verfügt über eine Fülle unterschiedlicher privater und öffentlicher Parkanlagen. Sie zeichnen sich durch oft alten Gehölzbestand und vornehmlich durch hohe Abstände zu intensiv genutzten landwirtschaftlichen Flächen aus. Bei nur moderater und umsichtiger Pflege können sich diese Bereiche zu hot spots der Artenvielfalt entwickeln. Leider wissen die für die Anlagen zuständigen Institutionen oft nichts von den dort mitunter auch gefährdeten und geschützten Arten, so dass wertvolle Vorkommen unbeabsichtigt beseitigt werden.

Richelpfähle

Alter Weidezaun mit Holzpfählen im Dauergründland

Alter Weidezaun mit Holzpfählen im Dauergründland (Gemeinde Ihlow, Landkreis Aurich)

Mit dem weiter anhaltenden Strukturwandel in der Landwirtschaft verschwinden die Weidezäune aus altem Eichenholz zunehmend aus der Landschaft. Örtlich bilden sie auch heute noch wichtige Substrate für spezialisierte Arten wie die Krustenflechte Cyphelium inquinans. Das einzige noch bekannte regionale Vorkommen einer in Mitteleuropa selten gewordenen Bartflechtenart wächst auf einem Eichenpfahl an einer ungedüngten Pferdeweide ebenfalls in der Gemeinde Ihlow. Die Fortführung der extensiven Beweidung und der Verzicht auf übermäßige Düngung bilden die wesentlichen Bedingungen für einen Fortbestand dieser Arten. Durch einen Umbruch zu Ackerland oder das Brachfallen des Grünlandes würden die Arten in kurzer Zeit verschwinden, auch wenn die Pfähle nicht beseitigt würden.

Nachtrag (Mai 2020): Es gab noch eine weitere Möglichkeit, den Wuchsort zu beseitigen: Der Reitverein hat die überwiegend noch gut erhaltenen eichenen Weidepfähle vollständig durch eine neue Einzäunung ersetzt. Damit ist ein weiteres Vorkommen geschützter und gefährdeter Arten erloschen.

Holzzäune

Holzzaun in Dreibergen

Von Rindenflechten dicht besiedelter Holzzaun in Dreibergen (Zwischenahner Meer)

Unbehandeltes Holz - insbesondere Eiche - kann einen hervorragenden Ersatz für die vielerorts stark eutrophierte Baumrinde darstellen. Der Bau solcher Zäune oder der in der Geest traditionell verwendeten Weidetore ("Heck") stellt eine wirkungsvolle Artenschutzmaßnahme dar.

Kirchen, Friedhöfe und historische Gebäude

Friedhofsmauer am Störtebekerturm in Marienhafe

Friedhofsmauer am Störtebekerturm in Marienhafe

Die Flechtenflora der alten Backsteinmauern von Friedhöfen und Kirchen ist im Jahr 2004 im westlichen Ostfriesland und 2005/2006 in der Wesermarsch untersucht worden. Daneben wurde eine beeindruckende Artenzahl auch an dem meist sehr alten Baumbestand festgestellt. Die Kirchen sind somit nicht nur kulturhistorisch, sondern vor allem auch lichenologisch besondere Kleinode der nordwestdeutschen Marschgebiete.

Alte Küstenschutzbauwerke

Altes Deckwerk an der Hafeneinfahrt Norderney

Altes Deckwerk an der Hafeneinfahrt Norderney

Im Tidebereich der Nordseeküste existieren nur noch wenige alte Bauwerke, an denen sich über Jahrzehnte eine artenreiche Flechtenflora entwickeln konnte. Entsprechend der Überflutungshäufigkeit sind hier Zonierungen unterschiedlicher Arten deutlich zu unterscheiden. Der obere, sehr auffällige Bereich wird oft durch gelbe Xanthoria- und Caloplaca-Arten geprägt, während die tieferen Bereiche unscheinbaren Krustenflechten vorbehalten sind. Im Foto vom Geo-Tag 2009 auf Norderney untersucht Uwe de Bruyn den Abschnitt oberhalb der Niedrigwasserlinie.

Sonderstandorte

Ein Zaun aus Walknochen auf Borkum

Ein Zaun aus Walknochen auf Borkum

Die historischen Zäune aus Walknochen auf der Insel Borkum sind durch Massenbestände der Krustenflechte Diploicea canescens und einige andere Arten gekennzeichnet. Sie stellen zweifellos eines der eindrücklichsten Beispiele für die Vielzahl an Substraten dar, die von Flechten besiedelt werden können.




Abdeckung eines Schaltkastens der Telekom in Hinte

Abdeckung eines Schaltkastens der Telekom in Hinte (Landkreis Aurich)

Der Betreiber dieser Schaltanlage weiß vermutlich nicht, welche Bedeutung sie für den Artenschutz hat. Bei einer zufälligen Untersuchung im August 2018 wurden 18 meist epiphytisch vorkommende Flechtenarten festgestellt, mehr als an vielen Bäumen nachzuweisen sind. Darunter waren sieben besonders geschützte Arten, darunter die seltene Blattflechtenart Parmelina tiliacea, deren Bestand in Niedersachsen stark gefährdet ist.




Verkehrsschild an der Zufahrt zu einer nicht mehr bestehenden Bohrinsel in der Leybucht

Verkehrsschild an der Zufahrt zu einer nicht mehr bestehenden Bohrinsel in der Leybucht

Etwa ein halbes Jahrhundert hat die kleine Blattflechte Polycauliona polycarpa gebraucht, um aus dem blitzblanken Wahrzeichen der Zivilisation einen geeigneten Flechtenlebensraum zu machen.