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Rares

Seltene oder schon verschwundene Rindenflechten verweisen auf besondere Standortbedingungen oder sich ändernde Umweltfaktoren. Wenn eine seltene Art gefunden wird, drängt sich die Frage auf, was ihren Wuchsort von anderen Biotopen unterscheidet: Warum kommt sie ausgerechnet hier vor? Wenn extreme Rückgänge früher häufiger Arten beobachtet werden, lautet die Frage: Was hat sich so gravierend verändert? Warum verschwindet eine Art aus unserer Landschaft? Wir haben versucht, darauf beispielhaft einige Antworten zu finden.

Cyphelium inquinans

Cyphelium inquinans

Wuchsorte der Grauen Staubfruchtflechte (Cyphelium inquinans) sind in der Region nur noch sehr selten zu finden.

HEINRICH SANDSTEDE (1912) fand diese auffällige Art "häufig, an alten Pfosten, Pfählen, Brettern, Brückengeländern aus Eichenholz, überall im Gebiete", auch auf den Inseln. Noch in den 1980er Jahren war sie in den Dauergrünlandflächen ostfriesischer Niederungen (z.B. Bagbander Tief, Hollener Ehe) auf altem Eichenholz der Richelpfähle zu finden (LINDERS 1988). Heute sind im Nordwesten nur noch wenige, meist stark bedrohte Wuchsorte der Art bekannt. Auch in den Niederlanden sind trotz hervorragender Untersuchungsdichte nur noch zwei Vorkommen bekannt.

Nach WIRTH (2010) toleriert die Art nur schwache Eutrophierung und benötigt ein sehr saures Milieu, wie es an altem Eichenholz im Extensivgrünland gegeben ist. Da sie ozeanisch getönte Standorte mit feuchtem Klima bevorzugt, dürften Klimawandel und Entwässerung der Landschaft weitere Vitalitätseinschränkungen verursachen. Das völlige Verschwinden der Art aus dem Nordwesten ist wohl nur noch eine Frage der Zeit.

Das abgebildete Lager ist konkret durch ein Straßenbauvorhaben bedroht.

Anaptychia ciliaris

Anaptychia ciliaris

Das einzige in der Region noch bekannte Lager der Gefransten Wimpernflechte (Anaptychia ciliaris) weist eine geringe Vitalität auf.

Zum Ende des 19. Jahrhunderts war diese prägnante Blattflechte "häufig an Bäumen am Waldesrand, an Wegen und Feldern, an Mauerwerk" (SANDSTEDE 1912). Ca. 100 Jahre später gab es noch drei Vorkommen (DE BRUYN 2000). Aktuell kennen wir noch ein einziges Lager, dessen Existenz im Landkreis Aurich durch eine drohende Abholzung und die intensive Landbewirtschaftung gefährdet ist. Da sie nach WIRTH (2010) nur eine "ziemlich schwache Eutrophierung" verträgt, muss es verwundern, dass das kleine Lager immer noch existiert.

Usnea

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Monitoringfläche eines heute erloschenen Bartflechtenvorkommens bei Jethausen (Landkreis Friesland) in den 1980er Jahren

Vitale, von Bäumen und Zäunen dicht herabhängende Bartflechten waren einst in Deutschland keine Seltenheit. Heute sind sie nur noch in wenigen Gebieten zu finden. Hauptursache des Rückgangs ist die zunehmende Luftschadstoffbelastung im letzten Jahrhundert. In industriefernen Regionen Nordwestdeutschlands ließen sich noch mit etwas Glück bis in die 1990er Jahre kleinere, vitale Reliktvorkommen entdecken. Der abgebildete Flechtenbesatz mit Usnea hirta an Straßenbäumen in einer extensiv genutzten Grünlandregion südlich von Varel wurde im Rahmen eines Umweltmonitorings über mehrere Jahre fotografisch dokumentiert. Mit Steigerung der Nutzungsintensität und wahrscheinlich auch der Düngung der benachbarten Grünländer verschwand dieser Bestand jedoch innerhalb von wenigen Monaten im Jahr 1996. Aktuell gelten Bartflechtenvorkommen der Gattungen Usnea und Bryoria in Nordwestdeutschland als nahezu ausgestorben.

Strangospora deplanata

Strangospora deplanata

Die Krustenflechte Strangospora deplanata wurde im Oktober 2019 an einer umgestürzten Zitterpappel im Vorland der Unterems gefunden.

Es erscheint ausgeschlossen, dass mögliche Vorkommen dieser auffälligen Flechte zwischen Weser und Ems in der Vergangenheit hätten übersehen werden können. Offenbar ist die Art allgemein sehr selten. Es liegen auch aus europäischen Nachbarländern nur sehr wenige Nachweise vor. Außer einer Vorliebe für die Rinde von Zitterpappeln sind auch keine prägnanten ökologischen Ansprüche beschrieben worden. Insofern wirft der Fund zunächst viele Fragen auf. Können wir die Art künftig häufiger sehen oder bleibt es bei einem Zufallsfund? Und was sagt uns das Vorkommen über möglicherweise veränderte Umweltbedingungen? Näheres zu dem überraschenden Fund ist einem Beitrag in der Herzogiella (pdf-Datei, ca. 2,01 MB) zu entnehmen.

Peltigera neckeri

Neckers Schildflechte

Neckers Schildflechte (Peltigera neckeri)

Neckers Schildflechte

Der schwärzlichgraue Filz im Zentrum der Unterseite des Lagers ist typisch für die Art.

Am 26.06.2021 machte die Flechtenkundliche Arbeitsgemeinschaft Nordwestdeutschland eine Exkursion im nördlichen Teil der Stadt Oldenburg (Oldb.), die unter anderem auf den ehemaligen Fliegerhorst und in das dortige Naturschutzgebiet (NSG) Alexanderheide führte. Teilnehmende waren Norbert Hecker, Thomas Homm, Willem Linders und Karsten Mohr.

Mit Peltigera neckeri gelang ein bemerkenswerter Wiederfund einer im Niedersächsischen Tiefland zuvor als verschollen geltenden Art (HAUCK & BRUYN 2010) nach über 60 Jahren. Die letzte akzeptierte Fundangabe stammt nach HAUCK (1996) von ERICHSEN (1957). ERICHSEN (a.a.O, Seite 119) führt die Art unter P. polydactyloides Nyl. und nennt als Fundort: "Nordwestdeutschland, Oldenburg, Varel, Wegrand bei Bockhorn" (heute Landkreis Friesland im Naturraum Ostfriesische Geest). HAUCK (1996) gibt aus Sicht des Naturschutzes die Empfehlung, dass noch vorhandene Vorkommen vollständig erhalten werden sollten. Das neu entdeckte Vorkommen liegt innerhalb des Naturschutzgebiets Alexanderheide (NSG WE 00282).

In früherer Zeit wurde die Art vielfach mit anderen Peltigera-Arten verwechselt oder vermengt (vgl. HAUCK 1996). Die taxonomischen Schwierigkeiten bei der Abgrenzung spiegeln sich noch heute in der langen Liste von Synonymen wider (s. index fungorum bzw. species fungorum, Zugriff 01.07.2021, Links s. unten).

Die Art ist rezent noch in der nahe gelegenen Rote Liste Region Küste, hier auf den Ostfriesischen Inseln, mehrfach gefunden worden; so berichten HAUCK et al. (2009) von Funden (alle leg./det. U. de Bruyn) von Norderney und Baltrum (beide aus dem Jahr 2008) und Juist (2006). BRUYN (2012) gibt die Art in einer Verbreitungskarte aus 15 von insgesamt 113 Minutenfeldern auf den vier Inseln Baltrum, Norderney, Juist und Borkum als "relativ häufig" an. Auf den Inseln kommt sie demnach als Art mit geringer Konkurrenzfähigkeit vor allem in der artenreichen Graudüne an nordexponierten Dünenhängen vor.

Demgegenüber überrascht das Vorkommen an einem Sekundärstandort auf Feinerde über verwitterndem Asphalt des ehemaligen Flugfeldes (Sekundärstandort). In der näheren Umgebung kamen u.a. auch die Flechten Peltigera rufescens, Cladonia pocillum, Cladonia furcata und Cladonia rei sowie die Laubmoose Brachythecium albicans und Tortula ruraliformis vor.

Ein Blick in den Verbreitungsatlas der Flechten in den benachbarten Niederlanden (verspreidingsatlas.nl, Zugriff: 01.07.2021, Link s. unten) zeigt im Vergleich mit der Karte in der Arbeit von APTROOT et al. (2011) zahlreiche Neufunde im Binnenland während der letzten 10 Jahre. Davon liegen nach Auskunft von Laurens Sparrius (brieflich), Utrecht, auch einige im Bereich von z.B. mit Betonschutt angereicherten Sandflächen; auch ist die Art dort an angelegten Gräben auf exponierten kalk- und phosphatreichen Sandböden im Bereich von Agrarflächen zu finden.

Ob die Art eventuell im Binnenland in Ausbreitung ist oder lediglich auf Grund von Bestimmungsschwierigkeiten unterkartiert ist, kann derzeit nicht mit Sicherheit gesagt werden.

Wir danken Laurens Sparrius (Utrecht) für die Bestätigung der Artansprache.

Xanthoparmelia conspersa

Xanthoparmelia conspersa

Das Lager der Gesprenkelten Felsschüsselflechte ist durch seine Größe, die grünliche Färbung und die dicht stehenden Isidien unverkennbar.

Unerwartet war der Nachweis der Gesprenkelten Felsschüsselflechte (Xanthoparmelia conspersa), die gemäß Roter Liste der Flechten in Niedersachsen und Bremen bisher in der Küstenregion nicht festgestellt worden war (SANDSTEDE 1912, HAUCK & de BRUYN 2010, BRUYN 2012). Die nur selten auftretende Art kommt vor allem auf Findlingen und Großsteingräbern im Geestbereich vor (HAUCK 1996). Gleichwohl ist das neue Vorkommen nicht gänzlich überraschend, da die Art von der Westseite der Außenems auf niederländischer Seite bekannt ist.

Das Lager wurde ca. 3,7 m über der mittleren Hochwasserlinie auf dem Deckwerk nahe der Schleuse Leyhörn gefunden. Es wies zwar keine Fruchtkörper auf, war aber von leichten Nekrosen abgesehen von guter Vitalität und hatte sich bereits auf angrenzende Sande in den Fugen zwischen den Wasserbausteinen ausgedehnt.

Es bleibt abzuwarten, ob die Art an weiteren Deckwerken entlang der Küste gefunden werden kann.

Quellen:

  • APTROOT, A.; HERK, K. van & SPARRIUS, L. (2011): Veldgids Korstmossen van duin, heide en stuifzand. – BLWG, 158 S.
  • BRUYN, U. de (2000): Zur aktuellen Verbreitung epiphytischer Flechten im nördlichen Weser-Ems-Gebiet. – Oldenburger Jahrbuch 100: 281–318.
  • BRUYN, U. de (2012). Bestandsaufnahme der Flechtenbestände der Ostfriesischen Inseln als wichtige Bioindikatoren - Analyse der Veränderungen der Flechtenbestände und deren Ursachen. - Schriftenreihe Nationalpark Niedersächsisches Wattenmeer Bd. 12: 1-67.
  • ERICHSEN, C. F. E. (1957): Flechtenflora von Nordwestdeutschland. - Stuttgart: Fischer. HAUCK, M. (1996): Die Flechten Niedersachsens. Bestand, Ökologie, Gefährdung und Naturschutz. – Naturschutz und Landschaftspflege in Niedersachsen 36: 1–208.
  • HAUCK, M.; BRUYN, U. de; WIRTH, V.; SPARRIUS, L.; THÜS, H. & PREUSSING, M. (2009): Neue oder bemerkenswerte Funde von flechtenbildenden und flechtenbewohnenden Pilzen aus Niedersachsen, Deutschland. – Herzogia 22: 109–116.
  • HAUCK, M. & U. de BRUYN (2010): Rote Liste und Gesamtartenliste der Flechten in Niedersachsen und Bremen, 2. Fassung (Stand 2010). - Inform.d. Naturschutz Niedersachs. 30 Jg., Nr. 1: 1 - 84. Hannover.
  • LINDERS, H.W. (1988): Cyphelium inquinans (Sm.) Trevisan in Nordwestdeutschland. - Floristische Rundbriefe 21: 122-125.
  • SANDSTEDE, H. (1912): Die Flechten des nordwestdeutschen Tieflandes und der deutschen Nordseeinseln. - Abh. d. Naturwissenschaftlichen Vereins zu Bremen XXI. Band, 1. Heft: 9-243. Bremen.
  • WIRTH, V. (2010): Ökologische Zeigerwerte von Flechten - erweiterte und aktualisierte Fassung. - Herzogia 23 (2): 229 - 248.
  • WIRTH, V. et al. (2011): Rote Liste und Artenverzeichnis der Flechten und flechtenbewohnenden Pilze Deutschlands. - In: LUDWIG, G. & MATZKE-HAJEK, G. (RED.) (2011): Rote Liste gefährdeter Tiere, Pflanzen und Pilze Deutschlands Band 6: Pilze (Teil 2) – Flechten und Myxomyzeten. - Naturschutz und Biologische Vielfalt 70 (6): 7 - 122. Bundesamt für Naturschutz, Bonn-Bad Godesberg.

http://www.indexfungorum.org/names/NamesRecord.asp?RecordID=106337
http://www.speciesfungorum.org/Names/SynSpecies.asp?RecordID=106337
https://www.verspreidingsatlas.nl/4456#